HÖRST
Autoimmunbedingter Hörverlust
15. August 2025
11 Minuten Lesezeit

Inhaltsverzeichnis
Autoimmunerkrankungen können verschiedene Organsysteme des Körpers betreffen – auch das sensible Hörorgan. Beim autoimmunbedingten Hörverlust richtet sich das körpereigene Immunsystem fälschlicherweise gegen die Strukturen des Innenohrs, was zu einer fortschreitenden Schwerhörigkeit führen kann. Diese seltene, aber ernsthafte Erkrankung wird oft übersehen oder mit anderen Formen des Hörverlusts verwechselt. Eine frühzeitige Erkennung und gezielte Behandlung sind jedoch entscheidend, um bleibende Schäden am Gehör zu verhindern.
Das Wichtigste in Kürze
- Autoimmunbedingter Hörverlust entsteht, wenn das Immunsystem fälschlicherweise das Innenohr angreift
- Typische Symptome sind fluktuierender, fortschreitender Hörverlust, oft begleitet von Schwindel und Tinnitus
- Die Erkrankung kann isoliert auftreten oder Teil einer systemischen Autoimmunerkrankung sein
- Eine frühe Diagnose und Behandlung mit immunsuppressiven Medikamenten können das Gehör schützen
- Bei fortgeschrittenen Fällen können Hörgeräte oder Cochlea-Implantate die Lebensqualität verbessern
Was ist autoimmunbedingter Hörverlust
Der autoimmunbedingte Hörverlust ist eine spezielle Form der Schwerhörigkeit, bei der das körpereigene Immunsystem die empfindlichen Strukturen des Innenohrs angreift. Medizinisch wird diese Erkrankung als autoimmune Innenohrerkrankung (AIED – Autoimmune Inner Ear Disease) bezeichnet. Während das Immunsystem normalerweise den Körper vor schädlichen Eindringlingen schützt, kommt es bei dieser Erkrankung zu einer verhängnisvollen Fehlfunktion: Die Abwehrkräfte erkennen körpereigenes Gewebe im Innenohr als fremd und bekämpfen es. Diese fehlgeleitete Immunreaktion führt zu chronischen Entzündungsprozessen im Innenohr, die die sensiblen Haarzellen und andere wichtige Strukturen schädigen können. Der genaue Mechanismus, der diese Autoimmunreaktion auslöst, ist noch nicht vollständig verstanden. Wissenschaftler vermuten jedoch, dass eine sogenannte molekulare Mimikry eine Rolle spielen könnte – dabei verwechselt das Immunsystem körpereigene Proteine mit denen von Krankheitserregern aufgrund struktureller Ähnlichkeiten. Die Erkrankung ist relativ selten und macht weniger als ein Prozent aller Fälle von sensorineuralem Hörverlust aus. Dennoch ist sie von großer klinischer Bedeutung, da sie unbehandelt zu schwerwiegenden, irreversiblen Hörschäden bis hin zur kompletten Taubheit führen kann.Primäre und sekundäre Formen der Erkrankung
Mediziner unterscheiden zwischen zwei grundlegenden Formen des autoimmunbedingten Hörverlusts. Die primäre autoimmune Innenohrerkrankung liegt vor, wenn die Autoimmunreaktion ausschließlich das Gehör betrifft. Diese isolierte Form ist besonders schwer zu diagnostizieren, da keine anderen Organsysteme betroffen sind und somit wichtige diagnostische Hinweise fehlen. Häufiger tritt jedoch die sekundäre Form auf, bei der der Hörverlust als Begleiterscheinung einer systemischen Autoimmunerkrankung auftritt. Etwa 15 bis 30 Prozent der Fälle gehören zu dieser Kategorie. Systemische Erkrankungen wie das Cogan-Syndrom, Morbus Wegener, rheumatoide Arthritis, systemischer Lupus erythematodes oder das Sjögren-Syndrom können das Innenohr in Mitleidenschaft ziehen. Diese Unterscheidung hat wichtige Auswirkungen auf die Diagnose und Behandlung. Bei der sekundären Form können andere Symptome wie Gelenkschmerzen, Hautveränderungen oder Augenbeschwerden wertvolle Hinweise auf die zugrunde liegende Erkrankung geben und eine gezielte Therapie ermöglichen.Charakteristische Symptome erkennen
Fluktuierender und fortschreitender Hörverlust
Das auffälligste Merkmal des autoimmunbedingten Hörverlusts ist sein charakteristischer Verlauf. Anders als bei der typischen Altersschwerhörigkeit, die meist schleichend und symmetrisch fortschreitet, beginnt der autoimmunbedingte Hörverlust oft plötzlich und einseitig. Der Hörverlust ist typischerweise sensorineural, was bedeutet, dass er durch eine Schädigung des Innenohrs oder der Hörnerven verursacht wird. Ein besonders charakteristisches Symptom ist der fluktuierende Verlauf der Schwerhörigkeit. Die Hörfähigkeit kann sich temporär verbessern, nur um dann wieder zu verschlechtern. Diese Schwankungen können über Tage, Wochen oder sogar Monate auftreten und unterscheiden die Erkrankung deutlich von anderen Formen des Hörverlusts. Viele Betroffene berichten, dass sie morgens schlechter hören als abends oder dass sich ihr Hörvermögen wetterabhängig verändert. Der Hörverlust schreitet in der Regel über Wochen bis Monate fort und kann sich dann auf das andere Ohr ausbreiten. Ohne angemessene Behandlung kann die Erkrankung zu einer hochgradigen Schwerhörigkeit oder sogar zur vollständigen Taubheit führen.Begleitsymptome des Gleichgewichtssystems
In etwa der Hälfte der Fälle geht der autoimmunbedingte Hörverlust mit Störungen des Gleichgewichtssystems einher. Das liegt daran, dass sich das Gleichgewichtsorgan (Vestibularorgan) in unmittelbarer anatomischer Nähe zur Hörschnecke im Innenohr befindet und oft gleichzeitig von der Autoimmunreaktion betroffen ist. Die vestibulären Symptome können sich als Drehschwindel, Gangunsicherheit oder allgemeine Gleichgewichtsprobleme manifestieren. Manche Patienten entwickeln auch einen Lagerungsschwindel, der nur bei bestimmten Kopfbewegungen auftritt. Diese Symptome können die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen und zu Stürzen oder anderen Unfällen führen. Zusätzlich berichten viele Betroffene von Ohrgeräuschen wie Pfeifen oder Rauschen (Tinnitus) sowie einem Völlegefühl in den Ohren. Diese Symptome können dauerhaft bestehen oder wie der Hörverlust selbst fluktuieren.Systemische Autoimmunerkrankungen als Ursache
Das Cogan-Syndrom
Das Cogan-Syndrom ist eine seltene systemische Autoimmunerkrankung, die primär die Augen und das Innenohr betrifft. Die Erkrankung wurde erstmals 1945 von dem amerikanischen Ophthalmologen David Cogan beschrieben und zeichnet sich durch charakteristische audiovestibuläre und okuläre Symptome aus. Die Hörsymptome beim Cogan-Syndrom ähneln denen des Morbus Menière: plötzlicher, fortschreitender sensorineuraler Hörverlust, der sich oft über ein bis drei Monate entwickelt und zur Taubheit führen kann. Begleitend treten Schwindel, Tinnitus und ein Völlegefühl in den Ohren auf. Die Augensymptome umfassen eine Entzündung der Hornhaut (interstitielle Keratitis), die zu Sehstörungen, Lichtempfindlichkeit und Augenschmerzen führen kann. In schweren Fällen kann das Cogan-Syndrom auch eine Entzündung der großen Blutgefäße, insbesondere der Aorta, verursachen. Diese Vaskulitis kann lebensbedrohliche Komplikationen wie Aorteninsuffizienz oder Aneurysmen zur Folge haben.Granulomatose mit Polyangiitis
Die Granulomatose mit Polyangiitis (GPA), früher als Morbus Wegener bekannt, ist eine systemische Vaskulitis, die kleine und mittelgroße Blutgefäße befällt. Die Erkrankung ist charakterisiert durch die Bildung granulomatöser Entzündungen in den Atemwegen, Nieren und anderen Organen. Der Hörverlust bei GPA entsteht meist durch eine Beteiligung des Mittelohrs. Die Entzündung kann zu chronischen Mittelohrentzündungen, Paukenhöhlenerguss oder sogar zu Trommelfellperforationen führen. In einigen Fällen ist auch das Innenohr direkt betroffen, was zu einem sensorineuralen Hörverlust führt. Die Diagnose wird oft durch weitere Symptome wie chronische Sinusitis, Nasenbluten, Lungenentzündungen oder Nierenprobleme unterstützt. Laboruntersuchungen können spezifische Antikörper (c-ANCA/PR3-ANCA) nachweisen, die für die Diagnose hilfreich sind.Weitere relevante Autoimmunerkrankungen
Verschiedene andere systemische Autoimmunerkrankungen können ebenfalls zu Hörproblemen führen. Das Sjögren-Syndrom, eine Erkrankung, die primär die Speicheldrüsen und Tränendrüsen betrifft, ist mit einem erhöhten Risiko für Hörverlust, Tinnitus und Schwindel verbunden. Studien zeigen, dass Patienten mit Sjögren-Syndrom ein 1,7-fach erhöhtes Risiko für schleichenden Hörverlust haben. Der systemische Lupus erythematodes kann durch die Bildung von Immunkomplexen zu vaskulären Schädigungen im Innenohr führen. Die rheumatoide Arthritis, bekannt für ihre Gelenkbeteiligung, kann in seltenen Fällen auch das Gehör beeinträchtigen, vermutlich durch ähnliche Entzündungsmechanismen. Auch entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa wurden mit Hörverlust in Verbindung gebracht, wobei der genaue Mechanismus noch nicht vollständig verstanden ist.Diagnostische Herausforderungen
Warum die Diagnose schwierig ist
Die Diagnose einer autoimmunen Innenohrerkrankung stellt Ärzte vor erhebliche Herausforderungen. Der Hauptgrund liegt darin, dass es keinen spezifischen diagnostischen Test gibt, der die Erkrankung eindeutig bestätigen kann. Die Diagnose ist daher typischerweise eine Ausschlussdiagnose, bei der systematisch andere mögliche Ursachen für den Hörverlust eliminiert werden müssen. Die Seltenheit der Erkrankung trägt zusätzlich zur Problematik bei. Da AIED nur einen sehr geringen Anteil aller Fälle von sensorineuralem Hörverlust ausmacht, denken viele Ärzte nicht sofort an diese Möglichkeit. Oft werden andere, häufigere Ursachen wie Hörsturz, Akustikusneurinom oder altersbedingte Schwerhörigkeit zunächst in Betracht gezogen. Ein weiteres Problem ist die variable Symptomatik. Während einige Patienten den klassischen fluktuierenden Hörverlust zeigen, können andere atypische Verläufe haben, die die Diagnose zusätzlich erschweren.Audiologische Untersuchungen
Hörverlusts zu bestimmen. Bei autoimmunbedingtem Hörverlust zeigt sich typischerweise ein sensorineuraler Hörverlust, der oft asymmetrisch ausgeprägt ist. Besonders wichtig ist die Dokumentation des zeitlichen Verlaufs der Hörverlust-Symptome. Wiederholte Hörtests über einen längeren Zeitraum können die charakteristischen Fluktuationen aufdecken, die für die Diagnose entscheidend sind. Auch die Messung der Sprachverständlichkeit und der otoakustischen Emissionen kann wertvolle Informationen liefern. Gleichgewichtstests wie die Elektronystagmografie oder die kalorische Prüfung sind besonders dann relevant, wenn der Patient über Schwindel oder Gleichgewichtsprobleme klagt.Labordiagnostik und Bildgebung
Blutuntersuchungen spielen eine wichtige Rolle bei der Differentialdiagnose. Auch wenn es keine spezifischen Marker für AIED gibt, können verschiedene Laborwerte Hinweise auf eine Autoimmunerkrankung geben. Dazu gehören allgemeine Entzündungsmarker wie BSG und CRP sowie spezifische Autoantikörper wie antinukleäre Antikörper (ANA), Rheumafaktor oder ANCA-Antikörper. Bei Verdacht auf bestimmte systemische Erkrankungen werden weitere spezielle Antikörper bestimmt, wie beispielsweise Anti-Ro/SSA- und Anti-La/SSB-Antikörper beim Sjögren-Syndrom oder Anti-dsDNA beim systemischen Lupus erythematodes. Bildgebende Verfahren sind essentiell, um andere Ursachen des Hörverlusts auszuschließen. Eine MRT des Gehirns und der inneren Gehörgänge mit Kontrastmittel kann Tumoren wie Akustikusneurinome, entzündliche Veränderungen oder vaskuläre Läsionen aufdecken. In manchen Fällen kann auch eine hochauflösende CT des Felsenbeins sinnvoll sein, um strukturelle Anomalien zu identifizieren.Behandlungsansätze und Therapieoptionen
Medikamentöse Therapie
Die medikamentöse Behandlung des autoimmunbedingten Hörverlusts zielt darauf ab, die überschießende Immunreaktion zu unterdrücken und die Entzündung im Innenohr zu reduzieren. Kortikosteroide stehen dabei an erster Stelle der Therapie. Prednison oder Prednisolon werden typischerweise in hohen Dosen (1-2 mg/kg Körpergewicht) über mehrere Wochen verabreicht, gefolgt von einer langsamen Dosisreduktion. Die Ansprechrate auf Kortikosteroide ist initial relativ hoch – etwa 70 Prozent der Patienten zeigen eine Besserung des Hörvermögens. Allerdings ist der langfristige Erfolg begrenzt. Nur etwa 14 Prozent der Patienten profitieren dauerhaft von der Steroidtherapie. Bei den meisten Betroffenen kehren die Symptome nach Reduktion der Steroiddosis zurück. Wenn Kortikosteroide unwirksam sind oder nicht vertragen werden, kommen andere immunsuppressive Medikamente zum Einsatz. Methotrexat, ursprünglich ein Krebsmedikament, wird in niedrigen Dosen als Immunsuppressivum verwendet und hat sich bei einigen Patienten als wirksam erwiesen. Weitere Optionen sind Azathioprin, Cyclophosphamid oder neuere Biologika wie TNF-alpha-Inhibitoren.Hörhilfen und technische Unterstützung
Wenn die medikamentöse Therapie den Hörverlust nicht ausreichend kontrollieren kann oder die Schwerhörigkeit bereits zu weit fortgeschritten ist, werden Hörhilfen zur Rehabilitation eingesetzt. Bei geringgradigem bis mittelgradigem Hörverlust können moderne Hörgeräte eine deutliche Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit bewirken. Bei hochgradiger Schwerhörigkeit oder Taubheit ist das Cochlea-Implantat (CI) oft die einzige Option zur Wiederherstellung des Hörvermögens. Eine frühzeitige Implantation ist wichtig, da die chronische Entzündung im Innenohr zu einer Verknöcherung der Hörschnecke führen kann, was die Implantation technisch erschwert. Interessanterweise kann die autoimmunbedingte Entzündung auch nach der Cochlea-Implantation die Funktion des Implantats beeinflussen. Es können schwankende Impedanzwerte auftreten, die eine häufigere Anpassung des Sprachprozessors erforderlich machen. Eine begleitende immunsuppressive Therapie kann diese Schwankungen stabilisieren.Behandlung der Begleitsymptome
Die Therapie der vestibulären Symptome erfordert oft einen multimodalen Ansatz. Akuter Drehschwindel kann mit Antivertiginosa behandelt werden, wobei diese Medikamente nur kurzzeitig eingesetzt werden sollten, um die zentrale Kompensation nicht zu behindern. Vestibuläre Rehabilitation ist ein wichtiger Baustein der Therapie. Spezielle Gleichgewichtsübungen helfen dem Gehirn, die defizitären Informationen des Gleichgewichtsorgans zu kompensieren. Lagerungsmanöver können bei benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel (BPLS) hilfreich sein.Prognose und Langzeitbetreuung
Die Langzeitprognose bei autoimmunbedingtem Hörverlust ist sehr variabel und hängt von verschiedenen Faktoren ab. Entscheidend ist vor allem der Zeitpunkt des Therapiebeginns – je früher die Behandlung einsetzt, desto besser sind die Aussichten auf eine Stabilisierung oder sogar Verbesserung des Hörvermögens. Bei Patienten mit sekundärer autoimmuner Innenohrerkrankung im Rahmen einer systemischen Autoimmunerkrankung ist oft eine langfristige immunsuppressive Therapie erforderlich. Die Behandlung muss dabei mit den anderen betroffenen Organsystemen abgestimmt werden, was eine enge Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Fachrichtungen erfordert. Die Betreuung sollte interdisziplinär erfolgen, mit HNO-Ärzten, Audiologen, Rheumatologen und gegebenenfalls anderen Spezialisten. Regelmäßige Kontrolluntersuchungen sind notwendig, um den Therapieverlauf zu überwachen und die Behandlung bei Bedarf anzupassen. Eine wichtige Rolle spielt auch die Patientenaufklärung. Betroffene müssen über den chronischen Charakter der Erkrankung informiert werden und lernen, Verschlechterungen frühzeitig zu erkennen, um schnell reagieren zu können. Mit angemessener Therapie und professioneller Betreuung können viele Patienten trotz der Herausforderungen ein erfülltes Leben führen.Weitere Artikel

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